Ohne Vater, ohne Mutter

21.12.2023 | Münnerstadt
Mahmoud Ali (rechts außen) zeigt dem ehemaligen Teilnehmer am Kolping-Jugendwohnen Münnerstadt, Sullaiman Warritay, wie man Fahrräder repariert. Betreuer Luca Mangold schaut zu.

Mahmoud Ali kann so ziemlich alles reparieren, was kaputt ist. Toaster. Haartrockner. Lampen. Und natürlich Fahrräder. „Schau, so geht das!“, meint der junge Syrer aus dem Kolping-Jugendwohnen Münnerstadt zu Sullaiman Warritay, während er sich an einem defekten Fahrrad zu schaffen macht. Sullaiman Warritay bewundert Mahmoud Alis technisches Geschick. Der wiederum ist beeindruckt von dem, was Sullaiman Warritay seit seiner Ankunft in Münnerstadt vor sechs Jahren alles geschafft hat.

Miteinander unterschiedlicher Nationalitäten

Im Kolping-Jugendwohnen Münnerstadt leben derzeit 14 männliche Jugendliche im Alter zwischen 13 und 17 Jahren. Sie kommen aus ganz verschiedenen Ländern. „Beispielsweise aus Syrien, Afghanistan, Benin, Somalia und Sierra Leone“, listet Betreuerin Anne Grüb auf. Im Dezember 2015 zogen die ersten Jugendlichen in die Einrichtung ein. Seither hat es viel Wechsel gegeben.

Auch Sullaiman Warritay lebt längst nicht mehr in Münnerstadt. Allerdings besucht er Anne Grüb, ihren Kollegen Luca Mangold und die Jugendlichen, die gerade betreut werden, regelmäßig. „Ich bin Kolping so dankbar für alles, Kolping war das Beste, was mir in Deutschland passieren konnte“, schwärmt der 21-Jährige aus Sierra Leone.

Die erste Zeit im Juni 2017, als Sullaiman Warritay in Münnerstadt ankam, ohne Vater, ohne Mutter, war allerdings richtig hart für ihn. „Ich war ziemlich depressiv“, sagt der junge Mann, der inzwischen eine unglaubliche Lebensfreude ausstrahlt. In der Jugendhilfeeinrichtung des Kolping-Bildungszentrums Schweinfurt fühlte er sich jedoch bald rundum wohl: „Denn ich wurde von Anfang an angenommen.“

Sprache als Schlüssel zur Integration

Einen Vorteil hatte Sullaiman Warritay gegenüber Jugendlichen aus Syrien oder Afghanistan: Er konnte Englisch sprechen. Das hatte er in Sierra Leone in der Schule gelernt. Sich Deutsch anzueignen, fiel ihm ebenfalls nicht schwer: „Nach einem Jahr konnte ich mich schon gut verständigen.“

Mahmoud Ali, der seit eineinhalb Jahren im Münnerstädter Jugendwohnen lebt, konnte bei seiner Ankunft nicht auf Englischkenntnisse zurückgreifen. Das Eintauchen in die deutsche Sprache fiel ihm allerdings deshalb nicht ganz so schwer wie anderen Syrern, weil er Kurde ist: „Von daher waren mir die Buchstaben vertraut.“ Inzwischen spricht auch Mahmoud Ali gut Deutsch. Aktuell besucht er die Berufsintegrationsklasse der Berufsschule in Bad Kissingen. Sein Traum wäre es, nächstes Jahres eine Lehre zum Mechatroniker zu beginnen. Technik liebt der 17-Jährige über alles.

Ein neues Leben aufbauen

Mahmoud Ali und Sullaiman Warritay flohen, weil sie im reichen Bildungs- und Industrieland Deutschland ein neues Leben beginnen wollten. Sullaiman Warritay berichtet von einem Gefühl permanenter Unsicherheit in seinem westafrikanischen Heimatland: „Ich musste da einfach weg.“ Die Welthungerhilfe nennt Sierra Leone ein „geschundenes Land“: Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze.

Mahmoud Ali gehört als Kurde in Syrien einer unterdrückten Minderheit an. Dies war, wie er sagt, überall im Alltag spürbar. Bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs 2011 durften Kurden in Syrien nicht einmal die kurdische Sprache benutzen.

Nächstes Ziel: Erzieher werden

Schon als Sullaiman Warritay ein kleiner Junge war, steckte er voller Wissbegierde und Ehrgeiz. „Lange wollte ich Anwalt werden“, bekennt er und lacht. Heute weiß er, wie unrealistisch das war. Aber Kinderpfleger zu werden, das hat er geschafft. Und es ist realistisch, dass er auf der Karriereleiter ein gutes Stück weiter nach oben steigt: Sullaiman Warritay möchte examinierter Erzieher werden. Wie gut er mit Kindern und Jugendlichen umgehen kann, bewies er während seiner Ausbildung. Und er erfährt es im Moment an seinem Arbeitsplatz, wo er mit geflüchteten Jugendlichen zu tun hat.

„Ich war immer voll motiviert“, meint er im Rückblick auf seine Bildungskarriere in Deutschland. Diese Motivation ließ im Laufe der Zeit kein bisschen nach. Sullaiman Warritay liebt es nach eigener Aussage, morgens zur Arbeit zu gehen. Er liebt den Umgang mit geflüchteten Jugendlichen. Er hat das Gefühl, etwas zu tun, was Sinn macht. Wer sonst als jemand wie er, der selbst geflohen ist, könnte Teenager mit Fluchterfahrung in der Tiefe verstehen? „Ich verdiene Geld mit etwas, das für mich einfach total schön ist“, sagt er.

Ausbildung als Glücksfall

Akzeptiert haben Mahmoud Ali und Sullaiman Warritay, dass es in Deutschland nicht reicht, irgendetwas zu können. Man muss eine Bescheinigung über das, was man kann, vorweisen. In Syrien war das völlig anders, berichtet Mahmoud Ali: „Man geht in ein Geschäft und sagt, dass man dies oder jenes lernen will, und dann lernt man es einfach.“ So kam der Sohn eines Mechanikers mit 13 Jahren zu sehr viel Know-how im Umgang mit kaputten Geräten.

Gemeinsam ist Mahmoud Ali und Sullaiman Warritay, dass sie, was ihren Status anbelangt, das Glück haben, eine Ausbildung durchlaufen und arbeiten zu dürfen. Dieses Glück haben nicht alle Jugendliche. Manche erhalten keine Anerkennung. Dann können sie nicht in eine Ausbildung einsteigen. Dann dürfen sie nicht arbeiten.

Überhaupt: Aktuell ist es unglaublich schwer, als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling in eine Jugendhilfeeinrichtung aufgenommen zu werden. Die Nachfrage ist weit größer als die vorgehaltenen Kapazitäten. „Auch wir könnten unsere Einrichtung doppelt und vielleicht sogar dreifach belegen“, sagt Betreuerin Anne Grüb.

Kolping-Bildungszentrum Schweinfurt